Die Beine des ruhenden Riesen sind eingeschlafen

Zur Rede von Putin und weiteren Kriegsaussichten

Der russische Diktator Wladimir Putin hielt eine lange Rede über die, angeblich von den Bolschewiken erfundene, Staatlichkeit der Ukraine und drohte uns damit, eine wahre “Dekommunisierung” zu zeigen, indem er die Souveränität von Marionettenregimes der „DNR“ und „LNR“ anerkennt. 

Er glaubt, dass die Ukraine zwar alle Fähigkeiten und Kapazitäten der Sowjetzeit verloren hat, jedoch in der Lage ist, Atomwaffen selbst herzustellen, was eine Bedrohung für Russland darstelle. Hunderttausende russische Soldaten warten seit dem letzten Jahr an den ukrainischen Grenzen, einige von ihnen fahren bereits in gepanzerten Fahrzeugen ins besetzte Donbass. Was hat das alles zu bedeuten?

Erstens hat die langjährige Fokussierung der Weltmedien auf russische Militärverbände rund um die Ukraine und fast tägliche Berichterstattung über den Termin oder gar eine Uhrzeit einer neuen Invasion ihren Zweck erfüllt: Kreml scheiterte daran, den Krieg schnell und unbemerkt zu beginnen, wie es im Frühjahr 2014 der Fall war.

Es ist nicht bekannt, ob alle Angriffspläne Putins die von westlichen Geheimdiensten aufgedeckte wurden echt waren, aber ständige Updates der Medien mit neuen Details räuberischer Pläne der russischen Regierung hat die ukrainische Frage beinahe zu einem zentralen Thema für die gesamte Menschheit gemacht.

Sogar das Problem der Coronavirus-Pandemie ist an Popularität dem wahrscheinlichen Dritten Weltkrieg gewichen, der mit dem Einmarsch in die Ukraine hätte beginnen können. Zehntausende neue Fälle? Egal, es gibt wichtigere Neuigkeiten.

Russlands Narrativ der „Diskriminierung“ russischsprachiger und orthodoxer Ukrainer, sowie der Vorwurf des „faschistischen Regimes“ (obwohl Putin selbst sagte, dass hierzulande regelmäßig demokratische Wahlen abgehalten werden) sind immer noch da verortet, wo sie 2014 waren – unter linken und rechten Bewegungen unterschiedlicher Marginalität. 

Rufe nach Respekt für das Recht Russlands, die Ukraine zu zerstören, sind sowohl von den berüchtigten Neonazis und Nationalbolschewiken als auch von angesehenen Parteien zu hören. Einer der Führer und ehemaliger Vorsitzender der britischen Labour Party, Jeremy Corbyn, der nicht als unbedeutender Politiker bezeichnet werden kann, sprach den Unsinn über die Notwendigkeit nicht vorhandene NATO-Truppen aus der Ukraine abzuziehen an.

Auf der anderen Seite beschuldigte der populäre sozialistische US-Senator Bernie Sanders, nach langem Zögern, Russland den europäischen Frieden zu untergraben. Seit langem werden anti-ukrainische Stimmungen von den konservativen amerikanischen Medien verbreitet, die der Republikanischen Partei nahe stehen. Der Rest des politischen Spektrums unterstützt weiterhin die ukrainische Realität.

Das heißt, in acht Jahren schleppenden Krieges fand keine qualitative Veränderung der russischen Propaganda statt. Höchstwahrscheinlich werden Fans der „russischen Welt“, die Sie in sozialen Netzwerken sehen werden, ihre Konten mit Sicheln und Hämmern oder Hakenkreuzen schmücken.

Die Pläne eines Überraschungsangriffs vom Kreml wurden westlichen Geheimdiensten angekündigt, und selbst wenn es sich dabei um reine Erfindungen handelte (was auch möglich ist), zwangen übermäßige Aufmerksamkeit und die Notwendigkeit, keine plötzlichen Schritte zu unternehmen, Russland zu einigen verrückten und symbolischen Schritten.

Neben der Tatsache, dass ihre Stellvertreter im besetzten Donbass mit schwerem Beschuss ukrainischer Stellungen und ziviler Objekte begannen, fanden die Geheimdienste des Kremls „Beweise“ für eine ukrainische Aggression gegen die Russen: In einem Fall wurden Granaten in der Region Rostow gezeigt, im anderen eine verbrannte Scheune, die angeblich von der Ukraine beschossen wurde.

In besetzten Städten des Donbass wurde auch versucht Terroranschläge zu simulieren, was jedoch dermaßen billig gefälscht wurde, dass niemand sich dafür ernsthaft interessierte. Der Höhepunkt der geheimen Pläne des Kremls war die „Evakuierung“ von Zivilisten aus der DNR / LNR, die in Busse gepackt und nach Russland gebracht wurden.

Die genaue Zahl der Vertriebenen ist derzeit noch nicht bekannt, aber Putin hat ihnen bereits 10.000 Rubel (rund 112€) Hilfe zugesagt. Bemerkenswert ist, dass gleichzeitig die männliche Bevölkerung des besetzten Donbass aufgefordert wurde, zur Waffe zu greifen. Einheimische berichten, dass für diesen Zweck angeblich bereits 16-jährige Schulkinder auf der Straße gejagt um eingezogen zu werden. Und zu diesem Zeitpunkt erkennt Putin die  „Republiken“ an. Damit negiert er Minsker Vereinbarungen über die Autonomie des Donbass innerhalb der Ukraine – so dass ein weiterer Friedensprozess im Format des „innerukrainischen Konflikts“ nicht mehr möglich ist. 

Putin hat den Status quo praktisch formalisiert: Wenn früher „lokale Milizen“ im Donbass gegen die Ukraine gekämpft haben, so werden sie jetzt durch Streitkräfte der Russischen Föderation ersetzt. Acht Jahre Desinformationskampagne, in der alle russischen Propagandisten zu beweisen versuchten, dass die Ukraine mit sich selbst im Krieg sei, waren umsonst.

Der „Bürgerkrieg“ ist nun vorbei, jetzt gibt es eine offene Konfrontation mit dem Personal der RF-Streitkräfte. Die erste Konsequenz einer so großen Verschiebung, ist die Kündigung der Minsker Vereinbarungen, nach denen die Ukraine dem besetzten Donbass den Status einer breiten Autonomie geben musste. Viele Jahre lang war die Hauptfrage, ob Russland sich vor oder nach den Kommunalwahlen zurückziehen sollte, bis klar wurde, dass der Kreml mit dem für die Ukraine günstigen Szenario nicht zufrieden war. Trotz der langjährigen Forderungen der Ukraine nach Umsetzung der Minsker Abkommen und Vorwürfen, dass Kiew sie verletzt habe, hat die Regierung Russlands diese mit der Entscheidung, die Souveränität von „DNR“ und „LNR“ anzuerkennen, als erstes aufgehoben.

Einerseits ist dies eine Erleichterung, weil niemand auf der Welt uns zwingen wird, Gebiete in die Ukraine wieder aufzunehmen, die von Kriegsverbrechern geführt werden, welche eine Immunität gegen Strafverfolgung genießen. Andererseits müssen alle Systeme, die Verhandlungen über Waffenstillstand oder den Austausch von Verwundeten festlegen, von Grund auf neu aufgebaut werden. Und natürlich wird Russland nicht auf den Einsatz schwerer Waffen verzichten, wie Minsk es fordert.

Putins jüngste Schritte geben jedoch Anlass zu Optimismus. Immerhin marschieren russische Soldaten an der Grenze wie Gurken in einer Wanne, und Donbass bleibt das einzige Schlachtfeld. Es ist sehr schwierig, die nächsten Schritte des Kremls vorherzusagen, da seine Führung zu allem bereit ist, sogar die eigenen Bestrebungen der letzten Jahre zu verleugnen, wie die Anerkennung der „Republiken“ zeigt. Es ist jedoch klar, dass Putin die Initiative verliert und seine Bewegungen zeigen eher Verzweiflung als kalte Zuversicht.

Alles was wir tun müssen ist uns zu organisieren und mutig auf die Lösung der Krise zu warten: Entweder wird Russland seine müden Truppen schrittweise abziehen oder sie in den Tod werfen. Es ist wahrscheinlich, dass die Offensive immer noch stattfinden wird – aber lokal in den Regionen Donezk und Luhansk. Daran ist jedoch nichts Gutes. Unter dieser Annahme gibt es auch keinen Grund zur unmittelbaren Panik, denn es ist offensichtlich, dass die Militärs, die gerade in ihre Positionen ausgerückt sind, Zeit brauchen werden, um sich vorzubereiten. Die taktische Pause könnte mehrere Monate oder mehrere Jahre andauern, da die russische Wirtschaft genauso unter dem Vorgehen des Kreml leidet wie die der Ukraine. Und wir müssen diese kostbare Zeit zu unserem Vorteil nutzen.

Erstens müssen wir akzeptieren, dass die Ukraine in naher Zukunft nicht der bequemste Ort für Menschen sein wird, die sich am meisten um ihre Karriere, Hobbys und ihr Privatleben kümmern. Jedes NATO-Land wird für diese Dinge geeigneter sein, aber hier müssen wir uns um Politik, Armee und Moral kümmern.

Zweitens müssen wir pro-russische Propaganda zum Schweigen bringen, ihren Apparat, der Streit und Brudermord innerhalb der Ukraine anstrebt, entkräften und neutralisieren. Jede Bewegung, Organisation oder Partei, die Straßenkriege propagiert, muss aufhören zu existieren. Ihre Anführer müssen in Übereinstimmung mit Normen der Rechtsstaatlichkeit bestraft werden.

Drittens besteht unser zukünftiges Leben, wie sich viele daran gewöhnt haben, in der Verteidigung der belagerten Festung. Wir können arbeiten, uns erholen und lieben, sogar persönliche Geschäfte im Ausland erledigen, aber zur richtigen Stunde müssen wir uns alle zusammenschließen und zu den Waffen zurückkehren, denn das Personal der Streitkräfte ist nur ein vorübergehendes Schutzschild, das bestehen bleibt, damit alle anderen sich mobilisieren können.

Schließlich müssen wir uns mehr umeinander kümmern, auf die Bedürfnisse und Probleme unserer Mitbürger*innen hören, uns einfühlen und mit ihnen teilen, helfen und uns nicht schämen, selbst um Hilfe zu bitten. Wir können keine Utopie erbauen, aber wir können unsere Existenz in Erwartung eines Tornados viel einfacher und angenehmer gestalten. So werden wir siegen.

/Übersetzung: Rost Likholat

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